Vorsprung Frankfurt - Melancholische Poesie und beißender Humor

Melancholische Poesie und beißender Humor

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Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert vom 3. September bis zum 13. Dezember 2020 die erste Einzelausstellung von Ramin Haerizadeh (*1975), Rokni Haerizadeh (*1978) und Hesam Rahmanian (*1980) in Deutschland.

Die raumgreifenden Installationen des iranischen Künstlerkollektivs entführen in eine eigene Welt. Immer wieder kreist ihr Werk um die Krisen des Nahen Ostens, um Krieg, Exil und Migration. Mit melancholischer Poesie und beißendem Humor verwandeln sie düstere Szenen in karikaturhafte Grotesken, die die globalisierte Welt spiegeln. Sie schaffen überraschende Begegnungen, richten die Aufmerksamkeit auf dringliche politische und soziale Konflikte der Gegenwart und hinterfragen Machtmechanismen genauso wie normative Geschlechterrollen oder die Kunstwelt. In der Schirn führen die Künstler ihrem Prinzip des work in progress folgend neue und ausgewählte ältere Werke zu einem immersiven Environment zusammen. Ausgangspunkt und Herzstück ist das eigens für die Ausstellung entstandene, monumentale Bodengemälde O You People! (2020) – ein dichtes Geflecht aus Erzählungen und Referenzen. Es wird von weiteren Werken ergänzt, darunter fünf Videoarbeiten, u. a. From Sea to Dawn (2016/17) oder If I Had Two Paths I Would Choose the Third (2020), Skulpturen wie Alluvium, March–June 2020 (2020) sowie Texte, Fotografien und Sound.

Basis und Zentrum der künstlerischen Arbeit des Trios ist sein Haus in Dubai. Hier entstehen in einem Prozess des gemeinsamen Lebens und Arbeitens Kunstwerke und Ausstellungen – häufig im Austausch mit Freundinnen und Freunden oder anderen Künstlerinnen und Künstlern. Die Ausstellung zeigt z. B. die Brunnenskulptur Memories Well Up from the Heart and Draw a Curtain on the Eye (2019), die beiden Skulpturen What If We Build Our Own Country, Drinking the Donkey’s Milk, Rather Than the Wolf’s? (2020), die in Zusammenarbeit mit der ägyptischen Künstlerin Hoda Tawakol entstanden, oder die performative Videoarbeit We Are the Eighth of a Kind (2014) mit dem US-amerikanischen Künstler und Musiker Lonnie Holley. Gemäß ihrer Definition des Kollektivs arbeiten Haerizadeh, Haerizadeh und Rahmanian in ihrem jeweils eigenen Stil sowohl zusammen als auch unabhängig voneinander.

Die Ausstellung „Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian. Either he’s dead, or my watch has stopped. Groucho Marx (while getting the patient’s pulse)“ wird gefördert durch den Verein der Schirn Freunde e. V.

„Die Kunst von Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian ist ein starker Kommentar zu unserer Zeit. Ausgehend von der Dringlichkeit aktueller sozialer und politischer Themen befasst sich ihre künstlerische Arbeit mit Machtmechanismen, Migration und den Folgen von Kriegen und Konflikten. Ihre Werke entstehen im Dialog – oft mit anderen Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt. Es sind dieser internationale Austausch, diese Begegnungen jenseits des Alltäglichen, die unseren Blick ganz wesentlich erweitern. Mehr denn je ist dies aktuell von zentraler Bedeutung“, betont Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt.  

„Was haben die Marx Brothers, Genderfragen, Migration, der Iran-Irak-Krieg und die Kunst miteinander zu tun? Im Werk von Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian begegnen sich ihre persischen Wurzeln und westliche Popkultur ebenso wie Hochkultur und Camp, Banales und dringliche politische Anliegen. Das iranische Künstlertrio versteht es, einen komplexen Kosmos zu schaffen, der überraschende Verbindungen und Begegnungen ermöglicht und auf diese Weise konventionelle Muster durchbricht. Es sind ebenso feinsinnige wie visuell überwältigende Environments, die Fragen der Identität in einer Welt in Bewegung aufwerfen“, sagt Dr. Martina Weinhart, Kuratorin der Ausstellung.

ÜBER DIE AUSSTELLUNG

Für die Schirn haben Haerizadeh, Haerizadeh und Rahmanian ein Environment entwickelt, das sie als alternative Landschaft verstehen. Grundlegend ist das großformatige Bodengemälde O You People! (2020). Die Grundstruktur basiert auf einer beinahe rituellen Performance, bei der sich die drei in sogenannte Dastgah verwandeln. Der persische Begriff dastgāh bezeichnet die Gesamtheit aller Werkzeuge, die man für einen bestimmten Zweck oder Prozess benötigt, in der traditionellen persischen Musik auch eine melodische Matrix für Improvisationen. Eine Art automatisiertes Wesen oder Transmitter verkörpernd, stellen die Künstler mit dieser Strategie die exklusive Subjektivität der Malerfürsten der Moderne in Frage. Das Gemälde verbindet Gestaltungsprinzipien und Motive der traditionellen persischen Malerei mit Aspekten der heutigen Zeit. Zahlreiche Einzelszenen sind miteinander verschränkt, abstrakt gemusterte Flächen finden sich unmittelbar neben gegenständlichen Darstellungen. Zu erkennen ist eine Art Landschaft am und im Wasser. Hier versammeln sich Touristen und kopflose Figuren, mit Mobiltelefonen oder Tablets beschäftigt. Sie alle haben die Konturen eines Schamseh – ein geläufiges Ornament auf den Buchdeckeln antiker islamischer Manuskripte. Eine zentrale Figurengruppe sitzt auf einem überdimensionalen Finger und klammert sich erschöpft aneinander. Sie basiert auf einer Fotografie, welche ein mit Geflüchteten überfülltes Boot zeigt. All dies sind Schnappschüsse einer globalen Gesellschaft. Prominent ist auch ein großer schreiender Eselskopf zu sehen – eine Referenz auf Pablo Picassos berühmtes Gemälde Guernica (1937). Die Figur des Esels taucht als subversives und vielschichtiges Motiv an unterschiedlichen Stellen dieser Arbeit sowie im Werk der Künstler auf, in Form der beiden Eselskulpturen Suggestion: What If We Build Our Own Country, Drinking the Donkey’s Milk, Rather Than the Wolf’s? (2020) oder auch in der Videoperformance We Are the Eighth of a Kind (2014). Der Esel gilt gemeinhin als geduldig und bescheiden, ist genügsam und gutmütig, bisweilen störrisch. In gesellschaftlichen Machtstrukturen steht er aber auch für jedermann, die graue Masse, ist das wenig anspruchsvolle Arbeitstier ländlicher Gesellschaften.

Referenzen auf die Kunstgeschichte, auf die Popkultur ebenso wie auf aktuelle oder historische Ereignisse, erscheinen in vielen Aspekten im Werk des Trios. So zitiert der Titel der Schirn-Ausstellung Either he’s dead, or my watch has stopped. Groucho Marx (while getting the patient’s pulse) den Filmklassiker A Day at the Races (1937) der Marx Brothers. Grundlage für die Moving Paintings der Künstler sind wiederum eigens angelegte Bildarchive von Fotografien und Medienberichten. Diese werden von den Künstlern übermalt und neu animiert. If I Had Two Paths I Would Choose the Third (2020) widmet sich dem Kampf um die Vormacht der Bilder und wirft Fragen nach den Werten einer Gesellschaft auf. Basis der Videoarbeit sind Medienbilder aus dem Irakkrieg, veröffentlicht von der britischen Zeitung The Guardian und der Nachrichtenagentur AP am 9. April 2003. Sie zeigen den Fall von Bagdad und des Regimes um Saddam Hussein sowie einen Bildersturm. From Sea to Dawn (2016/17), ein weiteres Moving Painting in der Ausstellung, behandelt eindringlich die Migration und die Flucht über das Mittelmeer.

Die Künstler sind während des Iran-Irak-Kriegs (1980–1988) aufgewachsen, was ihr Leben und ihre künstlerische Arbeit bis heute prägt. Auf einem großen Vorhang mit dem Titel My Son, My Crown (2020) ist in der Schirn die Fotografie einer Mutter abgebildet, welche die sterblichen Überreste ihres in diesem Krieg vermissten und zehn Jahre später wiedergefundenen Sohnes trägt – ein Thema, auf das ebenso das eindringliche Gedicht Boys and Animals eingeht. Auch die gesellschaftlichen Verwerfungen und Nachwirkungen der Iranischen Revolution (1978/79) finden Eingang in die Ausstellung. Die Videoarbeit Dance After the Revolution (2020) widmet sich einem populären Tanzstil, der sich trotz des Tanzverbotes im Iran der 1980er-Jahre entwickelte und tradierte Geschlechterrollen humorvoll neu interpretierte. Ausgelöst wurde dieser durch unter der Hand weitergereichte Tanz- und Fitnessvideos des im Exil in Los Angeles lebenden iranischen Tänzers Mohammad Khordadian.

Als Kollektiv behandeln die Künstler aktuelle Ereignisse auch ganz unmittelbar. So zeigt die Ausstellung nicht zuletzt Arbeiten, die während der Corona-Pandemie entstanden sind. Das Video From March to April…2020 (2020) gießt die Zeit der Quarantäne der Künstler in eine poetische Form. Während im Voiceover immer wieder die Wochentage Montag bis Sonntag wiederholt werden, fährt die Kamera langsam über ihren Ess- und zugleich Arbeitstisch, an dem Leben und Arbeiten auf engstem Raum stattfinden. Aus demselben Kontext stammen die beiden Skulpturen Alluvium, March–June 2020 (2020): Sie bestehen aus Stahlgestellen mit Keramiktellern, auf denen die Künstler Motive aus dem Strom der Medienberichte dieser Monate übermalt, collagiert und in neuer Form zusammengeführt haben.

ÜBER DIE KÜNSTLER

Ramin Haerizadeh (*1975, Teheran), Rokni Haerizadeh (*1978, Teheran) und Hesam Rahmanian (*1980, Knoxville, Tennessee) begegnen sich Mitte der 1990er-Jahre in Teheran. Hesam Rahmanian absolviert ein Studium der Kalligrafie und bildenden Kunst, zunächst in Teheran, später in den USA. Rokni Haerizadeh studiert in Teheran Malerei und Persische Literatur, und Ramin Haerizadeh widmet sich insbesondere der Malerei, Fotografie und dem Film. Seit 2009 leben und arbeiten die Künstler in einem gemeinsamen Haus in Dubai. Ihre Arbeiten waren international in Einzelausstellungen zu sehen, u. a. in der Kunsthalle Zürich (2015), dem Museu d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA) (2017) und dem Frye Art Museum, Seattle (2019). Zudem beteiligten sie sich an zahlreichen Gruppenausstellungen und Biennalen, u. a. im Institute of Contemporary Art (ICA), Boston, an der 9. Liverpool Biennial of Contemporary Art (2016), der 57. Biennale di Venezia (2017), im Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk (2019), an der Toronto Biennial of Art (2019) und der Biennale of Sydney (2020). Die Künstler wurden mit dem Han Nefkens Foundation MACBA Award for Contemporary Art ausgezeichnet. Neben der eigenen Ausstellungstätigkeit kuratiert und konzipiert das Kollektiv zahlreiche Ausstellungen von Künstlerkolleginnen und -kollegen.

KATALOG Ramin Haerizadeh Rokni Haerizadeh Hesam Rahmanian. Either he’s dead, or my watch has stopped. Groucho Marx (while getting the patient’s pulse), herausgegeben von Martina Weinhart. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt, einem Essay von Martina Weinhart, Kurztexten von den Künstlern in Zusammenarbeit mit Nazli Ghassemi sowie einer ausführlichen Biografie des Künstlerkollektivs. Deutsch–englische Ausgabe, 64 Seiten, ca. 95 Abb., 23 × 31 cm (Hochformat), Distanz Verlag, ISBN 978-3-95476-333-7, 15 € (SCHIRN), 28 € (Buchhandel)

ORT SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt DAUER 3. September – 13. Dezember 2020 EINTRITT 6 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder unter 8 INFORMATION www.schirn.de E-MAIL Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! TELEFON +49 69 29 98 82-0 FAX +49 69 29 98 82-240 SCHUTZ- UND HYGIENEMASSNAHMEN Um den Ausstellungsbesuch auch während der Corona-Pandemie sicher zu gestalten, wurden in Abstimmung mit den zuständigen Behörden umfassende Schutz- und Hygienemaßnahmen entwickelt. Weitere Informationen unter www.schirn.de/besuch ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN Mi 20 Uhr, Do 19 Uhr, Sa 15 Uhr, So 17 Uhr  FÜHRUNGEN BUCHEN individuelle Führungen oder Gruppenführungen buchbar unter Tel. +49.69.29 98 82-0 und E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! KURATORIN Dr. Martina Weinhart, Schirn Kunsthalle Frankfurt KURATORISCHE ASSISTENZ Rebecca Herlemann DIE AUSSTELLUNG WIRD GEFÖRDERT DURCH Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V.



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