Vorsprung Frankfurt - „Der Deiwel soll die ganze Politik holen“

„Der Deiwel soll die ganze Politik holen“

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Der Briefwechsel zwischen Johanna und Richard Tesch 1919 bis 1925 ist ein einzigartiges Zeitdokument der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation vor 100 Jahren. Er ist nun unter dem Titel „Der Deiwel soll die ganze Politik holen. Ein Briefwechsel aus Deutschlands erster parlamentarischer Demokratie 1919 – 1925“ in der Reihe „Kleine Schriften des Instituts für Stadtgeschichte“ im Verlag Henrich Editionen erschienen. Herausgeber sind neben dem Institut für Stadtgeschichte die Gesellschaft für Frankfurter Geschichte, der Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte und Sonja Tesch.

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Die Sozialdemokratin Johanna Tesch wurde am 4. März 1875 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 wurde sie im Zuge der folgenden reichsweiten Verhaftungswelle im August 1944 festgenommen und starb am 13. März 1945 im KZ Ravensbrück. 1919 gewann sie bei den Wahlen zur Verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung für die SPD ein Mandat im Wahlkreis Hessen-Nassau. Sie gehörte damit zu den ersten 37 weiblichen Parlamentarierinnen der Weimarer Republik und wurde 1920 auch in den Reichstag gewählt. Durch ihre Abgeordnetentätigkeit war Johanna Tesch oft lange von Frankfurt abwesend. Von Weimar und Berlin aus und auch von ihren zahlreichen Reisen zu Parteitagen und Parteiversammlungen in ganz Deutschland hielt sie brieflichen Kontakt nach Hause.

„Ein großer Teil der Briefe Johanna Teschs wurde dem Institut für Stadtgeschichte schon Anfang der 1980er Jahre übergeben und 2020 um die bisher noch im Privatbesitz von Sonja Tesch befindlichen Briefe ergänzt“, beschreibt Alexandra Lutz, Archivdirektorin und kommissarische Leiterin des Instituts für Stadtgeschichte, die Grundlage für den vorliegenden Band. „Eine Auswahl aus den insgesamt über 350 Briefen und Postkarten, die sie vor allem mit ihrem Mann Richard wechselte, ist nun in diesem Band dokumentiert und mit zeitgeschichtlichen Anmerkungen zur besseren Einordnung versehen.“ Es geht in den Briefen um die politischen Entwicklungen dieser Jahre, die Auseinandersetzungen um das Betriebsrätegesetz und den Kapp-Putsch, die Haltung der SPD-Fraktion und die Konflikte mit der USPD. Die Briefe sind damit ein vielschichtiges historisches Porträt des demokratischen Aufbruchs der Weimarer Republik sowie deren ständiger Bedrohung durch die extremen Kräfte von links und vor allem rechts.

„Nicht nur die Politik ist jedoch Teil der Briefe. Leser und Leserinnen erfahren sehr konkret, welche praktischen Probleme in den frühen 1920er Jahren im Leben der Politikerin, aber auch ihres Mannes, der den Familienhaushalt in Frankfurt weiterführte, zu bewältigen waren“, sagt Franziska Kiermeier, Leiterin der Abteilung Zeitgeschichte und Gedenken im Institut für Stadtgeschichte und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Frankfurter Geschichte. „Die Briefe berichten auch von den Zugfahrten nach Berlin, den Agitationsreisen im Land, der Beschaffung von Lebensmitteln und Kleidung, den Auswirkungen der Inflation, der Sorge um die Entwicklung der Söhne, dem täglichen Haushalt und der Bewirtschaftung des Gartens. Somit bieten die Briefe einen einzigartigen Einblick auch in die Alltagesgeschichte der frühen Weimarer Republik.“

Sonja Tesch, die Enkelin von Johanna und Richard Tesch, erbte die Briefe 1970 von ihrem Vater: „Mein Opa Richard Tesch, in der Familie ‚Pa‘ genannt, lebte ab Januar 1946 bis zu seinem Tod im Februar 1963 in unserer Familie. Durch unser Zusammenleben war meine Oma Johanna Tesch, genannt ‚Ma‘, immer sehr präsent und wurde für mich zum Vorbild.“ Nachdem Sonja Tesch die Briefe geerbt hatte, befasste sich sie intensiv mit deren Inhalt und wünschte sich seitdem, ein Buch daraus zu machen, was sie nun mit der notwendigen Unterstützung verwirklichen konnte.

Der 274-seitige Band ist aufwändig editiert und bietet neben den 116 ausgewählten Briefen erläuternde Randnotizen zu darin erwähnten Namen, Daten und Ereignissen sowie Texte von Lothar Wentzel zum sozialen und politischen Hintergrund der Briefe. Abgeschlossen wird der Band mit einem Nachtrag von Jutta Roitsch zu den Erfahrungen der ersten Sozialdemokratinnen in Parlament und Partei vor hundert Jahren. Zahlreiche historische Bilder ergänzen die Texte. Dieter Wesp vom Verein Frankfurter Arbeitergeschichte schildert die geleisteten Vorarbeiten zur Edition: „Der Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte hat in einer Arbeitsgruppe gemeinsam mit Sonja Tesch den gesamten transkribierten Bestand Ende 2020 als Dokumentation veröffentlicht und den Briefwechsel damit auch für alle Interessierten zugänglich gemacht, die die deutsche Kurrentschrift nicht lesen können.“
eniger als ein Jahr nach dieser Dokumentation konnte nun das vorliegende Buch erscheinen, das unter ISBN 978-3-96320-055-7 für 18 Euro im Institut für Stadtgeschichte, beim Verlag Henrich Editionen und im Buchhandel erhältlich ist.

Foto: Das Ehepaar Johanna und Richard Tesch um 1920 Copyright: Historisches Museum Frankfurt, Inv. Ph22566, Foto: Horst Ziegenfusz

Foto: Johanna und Richard Tesch 1918, Copyright: Historisches Museum Frankfurt, Inv. Ph22573, Foto: Horst Ziegenfusz

Foto: Johanna Tesch um 1919, Copyright: Historisches Museum Frankfurt, Inv. PH2259101, Foto: Horst Ziegenfusz

Foto: Johanna Tesch beim Agitieren am Oberforsthaus um 1930, Copyright: Historisches Museum Frankfurt, Inv. PH22598, Foto: Horst Ziegenfusz



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