Vorsprung Frankfurt - „Gleichberechtigung ist ein Gewinn für alle“

„Gleichberechtigung ist ein Gewinn für alle“

Kirsten Gerstner, Leiterin des städtischen Gleichberechtigungsbüros. Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Maik Reuß

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„Wir sind doch alle längst gleichberechtigt.“ Manchmal bekommen Frauen diesen Satz zu hören. Dass doch mittlerweile viele Frauen in Chefetagen zu finden seien und Frauen sich doch generell nicht beklagen könnten, zumindest in Deutschland und Europa. Aber stimmt das? Wenn es stimmen würde, hätten Kirsten Gerstner und ihre neun Mitarbeiterinnen ein ruhiges Arbeitsleben.

Seit Oktober leitet Gerstner das städtische Gleichberechtigungsbüro und über Langeweile kann sich keine der zehn Frauen, die bis auf eine Assistenz alle Gleichstellungsbeauftragte sind, beklagen. Wer mit Gerstner spricht, merkt schnell, dass ihr Langeweile auch nicht liegen würde: Sie brennt für ihr Thema. Die Notwendigkeit ihrer Arbeit habe sie beim Einstieg in die neue Stelle trotzdem überrascht, gibt sie zu: „Tatsächlich ist das Bewusstsein für unsere Arbeit oft noch nicht da. Es besteht noch viel Unsicherheit darin, wie mit kritischen Themen wie Sexismus oder sexueller Belästigung sensibel umgegangen werden soll.“ Ebenso sei sie aber auch positiv überrascht worden, vor allem dadurch, „wie offen und unserem Thema zugewandt die Ämter, Dezernent:innen und Gremien waren. Das hat mich riesig gefreut“, erzählt sie über ihre Antrittsbesuche bei Verwaltung und Politik.

Vom Erklären nach außen zum Blick nach innen

Gerstner ist aus dem Büro von Gesundheits- und Sozialdezernentin Elke Voitl, wo sie als Referentin für Drogenpolitik und das Bahnhofsviertel arbeitete, ins Gleichberechtigungsbüro gewechselt. Davor war die promovierte Politologin lange Jahre im US-Konsulat Kulturreferentin, dann dreieinhalb Jahre als Referentin für Drogenpolitik und Sprecherin des ehemaligen Gesundheitsdezernenten Stefan Majer tätig. Ein Job im Krisenmodus, denn ihr erster Arbeitstag war der 16. März 2020, pünktlich zum Beginn der Corona-Pandemie. „Ich scheine ein Faible für komplexe Themen zu haben“, lacht sie, die sich mit der Gleichberechtigung ein neues, brennendes Thema in der öffentlichen Diskussion gesucht hat. Es habe sie bereits an mehreren Stationen ihrer beruflichen Laufbahn sowie bei ehrenamtlichen Tätigkeiten begleitet. „Und ich fand es einfach schon immer ungerecht, wenn Frauen benachteiligt werden – schon als Kind hat mich das gefuchst!“, erzählt Gerstner.

Besonders reizvoll an der Leitungsstelle im Gleichberechtigungsbüro war für sie aber der Perspektivwechsel: „Mal nicht wie bei der Pressearbeit nach außen wirken, sondern nach innen schauen. Ich finde die Stadtverwaltung faszinierend – die Dynamiken zwischen Dezernaten und Ämtern, zwischen Politik und Verwaltung. Da ich keine klassische Verwaltungsausbildung habe, war mir das vorher gar nicht bewusst. Den Blick nun nach innen zu richten und sich in der Personalwelt zu bewegen, ist für mich extrem spannend“, erklärt die neue Leiterin ihre Motivation.

Basics für ein gleichberechtigtes Arbeitsumfeld

Als die Leitungsstelle im Gleichberechtigungsbüro frei wurde, weil Gerstners Vorgängerin Ulrike Jakob in den Ruhestand gegangen war, habe sie nicht lange gezögert, sich zu bewerben. Ihr neues Aufgabengebiet ist nun sehr breit gefächert: Das Gleichberechtigungsbüro geht reaktiv und proaktiv vor. Sie werden an jedem Einstellungsverfahren der Stadt beteiligt, begleiten Strukturierungsprozesse innerhalb der Ämter, unterschreiben Anträge für Überstunden und sitzen in stadtweiten Gremien und Arbeitskreisen. Ihr Rahmen bilden immer das Hessische Gleichberechtigungsgesetz (HGlG) und der Frauenförder- und Gleichstellungsplan – „unsere Bibeln“, sagt Gerstner lachend. Dass dieses Gesetz richtig umgesetzt wird, ist der Auftrag des Gleichberechtigungsbüros. „Wir schauen, wo Frauen benachteiligt werden und woran es liegt, und geben dann Impulse, was sich ändern sollte und wie“, erläutert sie.

Ab und zu gehe es dabei um absolute Basics: „Manchmal muss man darauf hinweisen, dass die Rahmenbedingungen für Frauen gar nicht vorhanden sind“, erklärt Gerstner. So musste zum Beispiel im Grünflächenamt damals dafür gesorgt werden, dass es Umkleidekabinen und Arbeitskleidung für Frauen gibt, als nach vielen von Männern dominierten Jahren die ersten Gärtnerinnen dort anfingen. „Am besten ist es, wenn wir von Anfang an eingebunden werden. Wenn etwas bereits ausgearbeitet ist, können wir nur noch nachjustieren“, erläutert Gerstner. Auch die Terminsuche für Meetings, Teamtage oder Fortbildungen gestaltet sich für Frauen oft schwerer, da sie häufiger in Teilzeit arbeiten und somit beispielsweise an Nachmittagen nicht verfügbar sind. Manchmal seien es ganz banale Dinge – dennoch erschweren sie vielen Frauen den Arbeitsalltag.

„Oft fühlen sich Frauen in solchen Situationen nicht ernstgenommen“

Für manche Frauen kann der Arbeitsalltag auch zu einer Tortur werden: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist immer noch keine Seltenheit – in allen Facetten. „Die Spannbreite der sexuellen Belästigung ist riesig – und keine davon wollen wir haben. Wir wollen keine abwertenden Witze und Bemerkungen gegenüber Frauen, keine anzüglichen Blicke. Denn genau da fängt es an: Das ist Sexismus“, stellt Gerstner klar. Von diesen Vorfällen geht es bis zu sexuellen Übergriffen physischer oder verbaler Art, die disziplinarrechtlich relevant sind. Gerstner und ihr Team erklären all dies in Broschüren, bei Aktionswochen und Workshops in den Ämtern. „Wir wollen das Thema immer wieder auf die Agenda setzen. Es geht um eine Kultur des Miteinanders, um einen akzeptierenden, wertschätzenden Umgang“, sagt Gerstner.

Betroffene Frauen können sich direkt an das Büro, beziehungsweise die dort für ihr Amt zuständige Gleichstellungsbeauftragte wenden. Jede der neun Kolleginnen ist unabhängig und alleine für ihre Ämter zuständig, Freigaben von ihrer Vorgesetzten brauchen sie für ihre Arbeit nicht – im Austausch seien die Kolleginnen und sie dennoch ständig, auch weil alle unterschiedliche Expertise mit einbrächten, sagt Gerstner. Ein ungewöhnliches Modell in der Verwaltung, aber eines, das sich bewährt hat. „Mitarbeiterinnen können uns jederzeit kontaktieren – immer vertraulich“, stellt Gerstner klar. „Wir setzen uns mit der Person zusammen und hören erst mal zu. Das ist ein ganz wichtiger Part, denn oft müssen sich Frauen ein ‚Jetzt hab dich nicht so‘ oder ‚Dann wehr dich halt‘ anhören und fühlen sich in der Situation nicht ernstgenommen.“ Ohne die eindeutige Aufforderung der Betroffenen kann das Gleichberechtigungsbüro jedoch nicht aktiv werden. Vorher ginge es vor allem um Verständnis und Stärkung. „Das sind unsere kleinen, täglichen Erfolge: Wenn wir eine Frau bestärken und Handlungsoptionen aufzeigen konnten und sie beim Rausgehen sagt: ‚Jetzt geht es mir schon viel besser.‘“, sagt Gerstner.

„Wir gendern doch eh alle schon“

Gegen sexuelle Belästigung verstärkt vorzugehen und Betroffene zu unterstützen, ist einer der Schwerpunkte, die Kirsten Gerstner und ihr Team sich für das nächste Jahr gesetzt haben. „Wir haben es uns auf die Fahnen geschrieben, dafür immer wieder zu sensibilisieren. Viele denken: Wenn es nicht disziplinarrechtlich verfolgbar ist, kann man nichts machen. Das stimmt nicht! Es geht um eine Sensibilisierung dafür, ganz klare Grenzen zu setzen“, macht sie deutlich.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die geschlechtersensible Sprache. Ein Thema, bei dem sich Gerstner nicht erschließt, warum darüber viel diskutiert werden muss: „Ich finde es verrückt, wenn Menschen fragen, was das mit dem Gendern soll. Wir gendern doch eh alle schon und haben es schon immer gemacht – wir gendern nur alles männlich!“ Sprache müsse nicht unnötig verkompliziert werden, aber an so vielen Stellen sei es möglich, neutraler zu formulieren. „Es geht nicht darum, dass man Dinge nicht mehr sagen darf – es geht darum, wertschätzend zu sein und alle miteinzubeziehen“, sagt die Gleichstellungsbeauftragte. Bei Stellenausschreibungen hat sich die Stadtverwaltung auf den Doppelpunkt als Genderzeichen geeinigt. Ein wichtiges Zeichen, damit sich alle angesprochen fühlen, findet Gerstner. Vor allem in Berufen, die traditionell als männlich oder weiblich dominiert wahrgenommen werden, sei das wichtig – wie zum Beispiel in der IT oder im sozialen Bereich.

Geschlechtersensible Führung macht den Arbeitsplatz attraktiver

Auch die Sensibilisierung von Führungskräften steht auf Gerstners Agenda. Dabei ist es ihr nicht nur wichtig, dass es gleich viele Männer wie Frauen in Führungspositionen gibt, sondern auch, dass Führungskräfte, egal welchen Geschlechts, gendersensibel arbeiten. „Führungskräften muss bewusst sein: Wenn sie gute Mitarbeitende gewinnen und halten wollen, müssen sie ‚Geschlecht‘ mitdenken. Gute ausgebildete Frauen – und auch Männer – wechseln sonst in die freie Wirtschaft, wo Unternehmen schneller reagieren können und Angebote wie flexible Arbeitsmodelle oder eine Betriebskita schneller umsetzen. Stichwort Fachkräftemangel – sie brauchen die Leute und tun viel dafür, dass diese bei ihnen bleiben“, führt Gerstner aus. Dass das für viele Führungskräfte nicht leicht ist, ist ihr bewusst. „Genau dafür sind wir da. Wir machen Angebote, beraten und unterstützen“, sagt die Gleichstellungsbeauftragte.

Bei der Stadt sei man in diesem Bereich schon recht weit – mobiles Arbeiten, Führen in Teilzeit, Kontingentplätze in Kitas, all das ist für die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung bereits möglich. „Wir haben schon viel erreicht, müssen aber weiter machen“, stellt Gerstner klar. Die Rahmenbedingungen müssten geschaffen werden, auch wenn es den Arbeitsalltag nicht immer einfacher macht. „Beim Thema Teilzeit schlagen da zwei Herzen in meiner Brust“, gibt sie lachend zu – denn ein Team zu führen sei einfach schwerer, wenn viele Kolleginnen und Kollegen in Teilzeit arbeiten oder ortsflexibel arbeiten. „Trotzdem müssen wir es möglich machen. Nicht alle können zeitlich flexibel sein und wir müssen es für alle ermöglichen, gut arbeiten zu können“, macht sie deutlich.

„Wir müssen die Männer dafür gewinnen, mitzuziehen“

Für alle möglich machen – damit meint Gerstner nicht nur die Mitarbeiterinnen. „Wir müssen mehr auf die Männer zugehen beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dieses Thema alle gemeinsam angehen.“ Gleichberechtigung müsse gelebt werden. „Wir gewinnen alle, wenn wir Benachteiligungen jeglicher Art aufheben und Arbeitnehmer:innen stark machen. So können wir für gute Arbeitsbedingungen sorgen. Wenn wir einen Alltag schaffen, in dem wir respektvoll miteinander umgehen, profitieren wir alle. Gleichberechtigung ist ein Gewinn für alle“, sagt Gerstner. Um dieses Ziel für die Stadtverwaltung zu erreichen, dafür setzen sie und ihr Team sich jeden Tag ein. Bis irgendwann Frauen auf die Aussage, dass alle längst gleichberechtigt sind, antworten können: „Stimmt.“

Text: Laura Bicker

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Kirsten Gerstner, Leiterin des städtischen Gleichberechtigungsbüros. Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Maik Reuß



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