Vorsprung Frankfurt - Von Terrorismus bis Diesel-Schummel: Rekordzahl an Verfahren am OLG

Von Terrorismus bis Diesel-Schummel: Rekordzahl an Verfahren am OLG

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Trotz Corona hat das Oberlandesgericht im vergangenen Jahr 6.900 Zivilverfahren erledigt. Das ist ein absoluter Spitzenwert und gegenüber dem Vorjahr mit 6.050 erledigten Verfahren noch einmal eine Steigerung um 20%. Im Verhältnis zum Jahr 2018 mit 4.940 Erledigungen beträgt die Steigerung sogar 40%. Auch die Verfahrenslaufzeiten konnten im Corona-Jahr konstant gehalten werden.

So haben Zivilverfahren 2020 im Schnitt 10,3 Monate gedauert gegenüber 10,1 Monaten in 2019 und 12,5 Monaten in 2018. Diese Zahlen zeigen die Leistungsfähigkeit des Oberlandesgerichts auch in Zeiten der Pandemie“, erklärte der Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main Dr. Roman Poseck heute anlässlich der Bilanzpressekonferenz des Gerichts. Auch in der gesamten ordentlichen Gerichtsbarkeit seien die Verfahrenserledigungen 2020 trotz Corona weitgehend konstant geblieben. Bei den Amtsgerichten in Hessen seien die Erledigungen bei den Zivilverfahren lediglich um gut 10% (2020: 71.500; 2019: 80.500) und bei den Landgerichten bei den erstinstanzlichen  Zivilverfahren um ca. 5% (2020: 27.800; 2019: 29.150) zurückgegangen. Bei den Strafsachen zeige sich das ähnliche Bild eines nur leichten Rückgangs der erledigten Verfahren (Amtsgerichte 2020 36.500; 2019: 40.000; Landgerichte 2020: 1.120; 2019: 1.150). Dabei hätten sich die Verfahrenslaufzeiten im Durchschnitt kaum verändert (Amtsgerichte Zivilsachen 2020: 5,9 Monate; 2019: 5,6 Monate; Landgerichte 2020: 11,5 Monate; 2019: 11,6 Monate).

„Die Justiz hat ihre Handlungsfähigkeit in Corona-Zeiten durchgängig unter Beweis stellen können. Dabei ist Corona eine große Herausforderung für die Gerichte. Es war seit März 2020 ein ständiger Spagat, einen Bereich am Laufen zu halten, der auf persönliche Kontakte und das Zusammentreffen von vielen Menschen in mündlichen Verhandlungen angewiesen ist. Dass dies aus heutiger Sicht insgesamt gut gelungen ist, verdanken wir vielen Beteiligten, die auf die schwierige Situation mit Vernunft, Augenmaß und Solidarität reagiert haben. Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die die Gerichte bei dem beschriebenen Spagat tatkräftig unterstützt haben“, führte Roman Poseck weiter aus.

Zu der erfolgreichen Gesamtbilanz des Corona-Jahres hätten auch neue Wege bei der Durchführung und Erledigung der Verfahren beigetragen, so zum Beispiel die Ausweitung von schriftlichen Verfahren und von Verhandlungen und Vernehmungen per Video. Die technische Ausstattung der Gerichte sei dem neuen Bedarf angepasst worden. Hinzu kämen das Ausweichen in externe Sitzungssäle, unter anderem die Anmietung von Leichtbauhallen, und die  Anschaffung von Luftfiltern.

„Corona prägt nicht nur die Rahmenbedingungen für die Durchführung der Verfahren. Die Pandemie bringt den Gerichten auch zahlreiche neue Verfahren. Hiervon sind beim Oberlandesgericht alle Bereiche, also die Zivil-, Familien- und Strafsenate, betroffen. Besondere Häufungen zeigen sich bei Streitigkeiten wegen der Inanspruchnahme von Betriebsschließungsversicherungen. Nach dem Eingang von 2 Verfahren 2020 aus diesem Bereich, sind es bis Mitte Juli in diesem Jahr bereits 34 gewesen. Auch Mietstreitigkeiten wegen Kürzungen der Miete bei Gewerberäumen, die während des Lockdowns nicht in der vorgesehenen Art und Weise genutzt werden konnten, weisen eine steigende Tendenz auf; bis Mitte Juli sind aus diesem Bereich in diesem Jahr 15 neue Verfahren eingegangen. Im September wird eine Wettbewerbssache wegen einer als „Corona-Prophylaxe“ gekennzeichneten Mund- und Rachenspüllösung verhandelt wer den. Im Strafrecht war etwa über die Anordnung zum Tragen von Fußfesseln in Strafverfahren in einer Leichtbauhalle zu entscheiden, die unter anderem mit einer erhöhten Fluchtgefahr auch wegen der Notwendigkeit des Lüftens begründet worden war. Die Justiz ist also auch bei der Aufarbeitung der Folgen von Corona besonders gefordert. Der Rechtsstaat ist auch an dieser Stelle aufgerufen, für Klarheit und Verlässlichkeit zu sorgen. Die Gerichte sind und bleiben gerade auch in Krisenzeiten ein unverzichtbarer Stabilitätsanker“, erläuterte Roman Poseck.

Aus dem Bereich der Familiensenate berichtete Vorsitzender Richter am OLG Prof. Heilmann ebenfalls von unterschiedlichsten Corona-Fallkonstellationen: Beschwerden von Eltern gegen die ihren Kindern auferlegten Verpflichtungen zum Tragen von Masken, Abstand zu halten, sich zu testen; eine Sorgerechtsentscheidung wegen eines von einem Elternteil mit dem Kind geplanten Flugs nach Nicaragua oder etwa die Frage, ob die sog. Corona-Soforthilfen bei der Unterhaltsberechnung zu berücksichtigen sind. Hinsichtlich der Auswirkungen des zum 1.7.2021 in Kraft getretenen Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder prognostizierte er: „Die verfahrensrechtlichen Änderungen lassen eine erhebliche Mehrbelastung für die Familiensenate erwarten, da in bestimmten Kindschaftssachen das Oberlandesgericht unter anderem die persönliche Anhörung von Kindern und Eltern zu wiederholen hat.“

Die Eingänge bei den Diesel-Verfahren verblieben auf einem sehr hohen Niveau. 2020 seien beim Oberlandesgericht 2.347 Verfahren aus diesem Komplex eingegangen. Die Hochrechnung für das laufende Jahr anhand der bis zum 15. Juli eingegangenen 1.212 Verfahren ergebe mit 2.237 Verfahren ein vergleichbares Niveau. Der absolute Höhepunkt der Neueingänge bei den Diesel-Verfahren im Jahr 2019 mit 3.496 Verfahren sei aber inzwischen überschritten. Es zeige sich aktuell eine deutliche Verschiebung bei den betroffenen Automarken. Die Neueingänge bei VW-Verfahren lägen 2021 deutlich unter dem Vorjahr (771 bis Mitte Juli gegenüber 1.882 im Vergleichszeitraum 2020). Dagegen nähmen die Verfahren bezüglich Daimler, Audi und BMW deutlich zu (Daimler 213 gegenüber 106; Audi 146 gegenüber 70; BMW 49 gegenüber 17, jeweils bis Mitte Juli).

„Die Flut an Diesel-Verfahren stellt für unser Gericht immer noch eine riesige Herausforderung dar. Auch wenn einige Rechtsfragen inzwischen durch den Bundesgerichtshof geklärt worden sind, weist jedes Verfahren individuelle Fragestellungen auf, die im Einzelnen bewertet werden müssen. Auch die Vergleichsmöglichkeiten sind zunehmend ausgereizt. Die Anzahl an Verfahren, die durch Urteil entschieden werden müssen, hat deutlich zugenommen. Wir setzen alles daran, dass die Bearbeitung der zahlreichen Diesel-Verfahren nicht zu Verzögerungen bei der Erledigung anderer Verfahren führt, geraten aber in Anbetracht von Wucht und Dauer der Flutwelle an Grenzen. Es wäre sehr hilfreich, wenn der Gesetzgeber Wege finden könnte, die Bearbeitung derartiger Massenverfahren zu erleichtern“, so Roman Poseck weiter.

Das vergangene und das laufende Jahr seien zudem durch ein außergewöhnlich hohes Fallaufkommen im Staatsschutz gekennzeichnet. 2020 und im ersten Halbjahr 2021 seien insgesamt fünf Urteile in Staatsschutzverfahren gesprochen worden. In dem Verfahren wegen der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke werde das Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof geführt. Derzeit würde in drei Verfahren mit  islamistischem Hintergrund parallel verhandelt. Der Generalbundesanwalt habe zudem vor wenigen Tagen eine Anklage gegen einen syrischen Arzt wegen umfangreicher Foltervorwürfe aus Loyalität zu dem syrischen Präsidenten Bashar Al Assad erhoben. Derzeit laufe das Zwischenverfahren, in dem über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden werde.

„Auch im Staatsschutz liegt die Belastung des Oberlandesgerichts derzeit auf Rekordniveau. Hier werden weiterhin enorme personelle Kapazitäten des Gerichts gebunden, vor allem auch, weil umfangreiche Verfahren mit sieben Richtern, darunter zwei Ergänzungsrichtern, durchgeführt werden müssen. Indikator für die Belastung sind vor allem die Hauptverhandlungstage. Diese haben sich 2020 mit 108 Hauptverhandlungstagen gegenüber 69 in 2019 um 56% erhöht. Für das laufende Jahr zeichnet sich ein ähnlich hoher Wert ab: Bis einschließlich Juli haben bereits 62 Hauptverhandlungstermine stattgefunden. Die Staatsschutzverfahren werden in unserem Gericht auch weiter höchste Priorität genießen. Die konsequente strafrechtliche Aufarbeitung auf den Gebieten des Rechtsextremismus, des Islamismus und des Staatsterrorismus hat eine hohe Signalwirkung. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit und zur Gerechtigkeit“, sagte OLG-Präsident Roman Poseck abschließend.



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